• Wer war Eva Siewert? 1907 - 1994

Eine Spurensuche

Ein Name, der in historischen Briefwechseln auftaucht, ein Foto und sechs literarische Texte: Mit einer Handvoll Fundstücke begann die Suche nach einer in Vergessenheit geratenen Autorin. In ERINNERUNG AN EVA SIEWERT ist eine posthume Ehrung, bruchstückhaft zusammengesetzt, in der Hoffnung, einer Frau gerecht zu werden, deren Schicksal nur aus diesen Dokumenten abzulesen ist.

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, die erste Seite dieses Webprojekts herunter zu scrollen. Sie erfahren die Lebensgeschichte Eva Siewerts mit allen Höhen und Tiefen.

Wenn Sie Wort für Wort lesen und sich das eine oder andere Audio anhören, brauchen Sie etwa eine Stunde. Alle Hörstücke zusammen dauern 45 Minuten. Wir empfehlen die geruhsame Betrachtung am Laptop oder Desktop, die mobile Benutzung ist selbstverständlich möglich.

Die Radiosprecherin

 

Autogrammkarte, handsigniert von Eva Siewert, Radioansagerin und Redakteurin bei Radio Luxemburg.

Solche Karten tauchen gelegentlich auf einer der üblichen Auktionsplattformen im Internet auf, möglicherweise aus dem Nachlass eines Fans.

 

Autogrammkarte, handsigniert von Eva Siewert, Radioansagerin und Redakteurin bei Radio Luxemburg.

Solche Karten tauchen gelegentlich auf einer der üblichen Auktionsplattformen im Internet auf, möglicherweise aus dem Nachlass eines Fans.

 

Autogrammkarte, handsigniert von Eva Siewert, Radioansagerin und Redakteurin bei Radio Luxemburg.

Solche Karten tauchen gelegentlich auf einer der üblichen Auktionsplattformen im Internet auf, möglicherweise aus dem Nachlass eines Fans.

Radioapparat aus den 30iger Jahren

Am 15. März 1933 geht „Radio Luxembourg“ auf Sendung. Der erste rein kommerzielle Rundfunksender, mit Programmen auf Französisch, Englisch, Flämisch und Deutsch. Während in Deutschland mit der Machtübernahme Hitlers alle Radiostationen gleichgeschaltet werden, kann der Sender von Luxemburg aus unbehelligt weiter senden. Mit dabei: Eva Siewert als dreisprachige Chefsprecherin.

Stimme von Radio Luxemburg

Zu der journalistischen Tätigkeit bringt sie ein Zufall. 1930 war Eva Siewert nach Teheran gezogen, wo sie etwa ein Jahr lang für eine deutsche Im- und Exportfirma arbeitete. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland hält sie Radiovorträge über ihre Reiseerlebnisse im fernen Persien. Dabei beeindruckt ihre Stimme so sehr, dass der Internationale Radiodienst Berlin Eva Siewert für den Posten einer deutschsprachigen Ansagerin bei Radio Luxemburg vorschlägt. 1934 berichtet die Zürcher Illustrierte  unter dem Titel „Man hört sie nur …“  über populäre Radioansagerinnen wie Eva Siewert. Bis zum Frühjahr 1938 hat sie die gut dotierte Stelle bei Radio Luxemburg inne.

Ich habe in der Zeit meiner dortigen Tätigkeit in fast allen Ressorts des Senders Einfluss genommen und war sowohl mit Programmzusammenstellungen wie musikalischen Einstudierungen, [dem] Aufbau des Schallplattenarchivs, der Bibliothek, Karteien, wie mit den Nachrichtendiensten, Übersetzungen, Verfassen von Vorträgen über alle Arten von Themen wie auch mit dem durchgehenden Ansagedienst in drei Sprachen beschäftigt. Der Sender hatte eine stark antifaschistische Tendenz.

Eva Siewert in ihrem Lebenslauf, um 1948

Portrait Eva Siewert mit Unterschrift

Das Schicksalsjahr 1938

Aus Angst vor der drohenden Kriegsgefahr in Europa beschliesst Eva Siewert, von Luxemburg wieder nach Teheran zu ziehen. Um das Visum zu beantragen, muss sie nach Berlin reisen – und sitzt fortan in der Falle. Plötzlich gilt sie wegen ihr jüdischen Mutter als „Halbjüdin“. Das erwünschte Visum wird ihr aufgrund der journalistischen Arbeit bei Radio Luxemburg verweigert, der Pass einbehalten. Wegen ihrer Auslandstätigkeit und vermeintlicher „Propaganda“ gegen den Nationalsozialismus ist sie in den Verdacht der „Feindverbindung“ geraten.

Eva Siewert schreibt vieles mit der Schreibmaschine. Im Nachhinein ein Glück, denn ihre Briefe, die Raimund Wolfert im Nachlass von Kurt Hiller entdeckt hat, sind klar und gut lesbar. Sie sprühen vor Geist und Temperament und bildeten den Grundstock für die Spurensuche nach Eva Siewert.

 

Eva Siewert schreibt vieles mit der Schreibmaschine. Im Nachhinein ein Glück.

Die Briefe, die Raimund Wolfert im Nachlass von Kurt Hiller entdeckt hat, sind klar und gut lesbar.

Sie sprühen vor Geist und Temperament und bildeten den Grundstock für die Spurensuche nach Eva Siewert.

In eigenen Worten

mit Schreibmaschine geschriebener Brief

Der Originalbrief liegt im Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft e.V in Neuss.

Brief an Kurt Hiller

im März 1947

Passfoto des Schriftstellers Kurt Hiller

Schriftsteller, 25 Jahre lang Mitarbeiter im Wissenschaftlich-humanitären Komitee.

Liebe

Um 1938 begegnet Eva Siewert der fünf Jahre älteren Alice Carlé, ebenfalls unverheiratet. Vielleicht war die Begegnung so: Beide arbeiten im selben Büro, kommen ins Gespräch und flirten, sie verabreden sich zum Spaziergang, finden aneinander Gefallen und werden ein Liebespaar.

Trägt Alice Carlé einen Bubikopf, ganz im Stil der späten Zwanziger? Hat sie die Haare hochgesteckt? Vielleicht ist sie blond, vielleicht brünett, oder sie hat rote Locken und Sommersprossen. Wir wissen es nicht.

Von Alice Carlé gibt es kein einziges Foto.

Liebe

Um 1938 begegnet Eva Siewert der fünf Jahre älteren Alice Carlé, ebenfalls unverheiratet. Vielleicht war die Begegnung so: Beide arbeiten im selben Büro, kommen ins Gespräch und flirten, sie verabreden sich zum Spaziergang, finden aneinander Gefallen und werden ein Liebespaar.

Von Alice Carlé gibt es kein einziges Foto.

Trägt Alice Carlé einen Bubikopf, ganz im Stil der späten Zwanziger? Hat sie die Haare hochgesteckt? Vielleicht ist sie blond oder brünett, oder sie hat rote Locken und Sommersprossen. Wir wissen es nicht.

Eva Siewert benutzt nie die Bezeichnungen „Lesbe“ oder „lesbisch“. Zu ihrer Zeit gehören diese Wörter nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch.

Erst mit dem Aufkommen der Lesbenbewegung ab den 1970/80er Jahren etablieren sich diese Wörter nach und nach im deutschen Sprachschatz.

Zur Bezeichnung weiblicher Homosexualität benutzt Eva Siewert biologische Begriffe wie „Gynandrie“, „Gynäkophilie“ oder „Gynäkotropie“.

Sich selbst beschreibt Eva Siewert im Briefwechsel mit Kurt Hiller so: Sie habe nicht nur „sehr männliche Gefühle“, sie sei überhaupt „verdammt männlich“.

Eva Siewert benutzt nie die Bezeichnungen „Lesbe“ oder „lesbisch“. Zu ihrer Zeit gehören diese Wörter nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch.

Erst mit dem Aufkommen der Lesbenbewegung ab den 1970/80er Jahren etablieren sich diese Wörter nach und nach im deutschen Sprachschatz.

Zur Bezeichnung weiblicher Homosexualität benutzt Eva Siewert Begriffe wie „Gynandrie“, „Gynäkophilie“ oder „Gynäkotropie“.

Sich selbst beschreibt Eva Siewert im Briefwechsel mit Kurt Hiller so: Sie habe nicht nur „sehr männliche Gefühle“, sie sei überhaupt „verdammt männlich“.

Die familiären Verhältnisse

  • Alice Carlé

    Kinderjahre

    Alice wird als jüngste Tochter des jüdischen Kaufmanns Nathan Moritz Grünstein und seiner Frau Margarete 1902 in Berlin-Friedrichshain geboren. Sie hat zwei ältere Geschwister, Charlotte und Hans. Die Familie nimmt später den Nachnamen Carlé an. Der Vater ist im Tuchhandel tätig. Die Familie gilt als wohlhabend, sie bewohnt eine großzügig geschnittene Wohnung im „Neuen Westen“, in der Charlottenburger Rankestraße 25, unweit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Von Familie Carlé sind keine Fotos erhalten.

    Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin 30er Jahre

    Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in den 1930er Jahren / Foto: Kunstanstalt Stengel & Co.

  • Eva Siewert

    Kinderjahre

    Eva, 1907 in Breslau geboren, entstammt ebenfalls einer bürgerlichen Familie.

    Historische Fotografie Hans Siewert im Bühnenkostüm

    Hans Siewert im Bühnenkostüm / Foto: M. Höffert & Co.

    Vater Hans Siewert (1872–1941) ist Kammersänger, auch Mutter Frida (1880–1953) ist Konzert- und Opernsängerin.

    Die Kindheit ist nicht einfach. Als Eva vier Jahre alt ist, wird die Ehe der Eltern geschieden.

    Das Mädchen, von Gouvernanten erzogen, will mit acht Jahren lieber beim Vater in Karlsruhe leben.

    Historische Fotografie Frida Siewert

    Frida Siewert-Michels, Starpostkarte von 1913 / Foto: Verlag GGCO.

    Ein Gerichtsbeschluss bringt sie zurück zur Mutter nach Berlin – gegen ihren Willen.

    Eva Siewert schreibt später über ihre Mutter:
    „Wir haben außer der Musik wenig Gemeinsames.“

    Eva Siewert

  • Alice Carlé

    Als junge Erwachsene

    Im Lauf der 1930er Jahre leiden die Eltern von Alice zunehmend unter finanziellen Schwierigkeiten und verlieren im Zuge der antijüdischen Maßnahmen der Nationalsozialisten ihr Vermögen. Sie erhalten keine Rente. Alice, die eine Ausbildung zur Büroangestellten gemacht hat, wohnt ab etwa 1938 mit ihrer älteren Schwester Charlotte und den Eltern in einer spärlich eingerichteten Zweizimmerwohnung in der Beuthstraße 10, in der Nähe des Spittelmarktes. Die unverheirateten Schwestern sind gezwungen, mit den Eltern auf engstem Raum zusammenzuwohnen und für das Nötigste zum Leben zu sorgen. Vermutlich sind sie „wegen ihrer jüdischen Herkunft“, wie so viele andere, zu Zwangsarbeit verpflichtet.

  • Eva Siewert

    Als junge Erwachsene

    Portraitfoto aus den 30iger Jahren: Junge Frau im schulterfreien Kleid

    Eva Siewert um 1929. Stadtarchiv Oldenburg, Bestand M Nr. 135

    Eva träumt zunächst von einer Karriere als Koloratursopranistin und absolviert eine entsprechende Ausbildung. Der Vater wird bereits 1932 Mitglied der NSDAP. Die Mutter ist jüdisch, weshalb später ihrer Tochter der Status eines „Mischlings ersten Grades“ zufällt. Die eigene Bühnenlaufbahn muss Eva Siewert jedoch aufgrund asthmatischer Beschwerden nach ersten Versuchen aufgeben, ab 1929 betätigt sie sich journalistisch.

    Eva Siewert

  • Der Spittelmarkt 1938

    Im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstört und so nicht wieder aufgebaut.

  • Die Wohnorte

    Während Alice Carlé 1938 in der Nähe des quirligen Spittelmarktes in der Mitte Berlins wohnt, lebt Eva Siewert im Westen der Stadt, in der Keithstraße 6. Sie wohnt zur Untermiete und unweit des KaDeWe, schon damals ein Luxuskaufhaus.

  • Die Wohnorte

    Um sich gegenseitig zu besuchen, können sie mit der U-Bahn fahren, neun Stationen von Spittelmarkt bis Wittenbergplatz ohne Umsteigen. Etwa 1941 zieht Eva Siewert in die Reichstraße 1 in Charlottenburg, auch dies eine gutbürgerliche Gegend.

Berufsverbot für Presse und Rundfunk

Nach dem gescheiterten Versuch, wieder in Teheran zu leben, darf Eva Siewert als „Halbjüdin“ nicht mehr journalistisch arbeiten. Sie muß sich mit weniger gut bezahlten Stellungen als Schreibkraft und Übersetzerin begnügen. Bei einer dieser Tätigkeiten sind sich Eva Siewert und Alice Carlé vermutlich begegnet.

Bedrohtes Liebesglück

Zu Beginn ihrer Liebesbeziehung sind die beiden Anfang/Mitte Dreißig. Über ihr persönliches Umfeld ist so gut wie nichts bekannt. Vermutlich treffen sie sich ganz im Privaten.

Die in den Zwanziger Jahren so blühende Subkultur Berlins mit ihren Damenklubs und Schwulenbars ist längst zerstört, die Lokale sind geschlossen.

Alice Carlé übernachtet oft bei ihrer Geliebten und entflieht so der Enge der elterlichen Wohnung. Sie tut dies aber wohl auch, weil sie sich als Jüdin bei der Freundin sicher fühlt. Dies bezeugen in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch zwei Frauen, die mit Alice Carlé bekannt waren.

Besonders aufschlussreich ist der Text „Das Orakel“. Er gibt einen sehr persönlichen Einblick in die schicksalhaften Lebensumstände des Liebespaars. Eva Siewert nennt sogar Alices Namen, und im Abgleich mit den recherchierten Fakten drängt sich der Rückschluss auf die Biographie der beiden geradezu auf.

  • Das Orakel

    Wachsende Unruhe und die Angst vor dem, was unter dem Naziregime noch auf sie zukommen mag, bringt die beiden Frauen auf die Idee, eine Wahrsagerin aufzusuchen …

Das Orakel

Aquarellzeichnung Hand auf Spielkarten

Wachsende Unruhe und die Angst vor dem, was unter dem Naziregime noch auf sie zukommen mag, bringt die beiden Frauen auf die Idee, eine Hellseherin aufzusuchen …

Originaltext zum Mitlesen →

Insgesamt sechs Texte Eva Siewerts hat die Schauspielerin Sigrid Grajek eingelesen. Auf eindrückliche Art wird so lebendig, was bisher nur auf Papier zugänglich war.

Eva Siewerts Erzählungen tragen stark autobiographische Züge und legen Zeugnis vom Schicksal der vergessenen Autorin ab. Aus der Zeit ihrer Tätigkeit als Radiosprecherin sind keine Tonaufnamen erhalten.

Die Hörstücke sind über die Website verteilt, passend zum Lebensabschnitt Eva Siewerts, den die jeweilige Erzählung berührt. Sie können auch direkt auf der Seite „Zum Hören“ aufgerufen werden.

Sigrids Grajeks Paraderolle ist die der „Claire Waldoff“, berühmt für Gassenhauer wie: „Wer schmeisst denn da mit Lehm?“ Sigrid Grajek tritt bundesweit auf Kleinkunstbühnen mit ihrer musikalischen Biographie auf.

Die Beschäftigung mit der lesbischen Kaberettkünstlerin hat Sigrid Grajek einen intensiven Einblick in die Lebensumstände der 1920er und 30er Jahre verschafft.

 

Insgesamt sechs Texte hat die Schauspielerin Sigrid Grajek eingelesen. Auf eindrückliche Art wird so lebendig, was bisher nur auf Papier zugänglich war. Eva Siewerts Erzählungen tragen stark autobiographische Züge und legen Zeugnis vom Schicksal der vergessenen Autorin ab.

Die Hörstücke sind über die Website verteilt, passend zum Lebensabschnitt Eva Siewerts, den die jeweilige Erzählung berührt.
Sie können auch direkt auf der Seite „Zum Hören“ aufgerufen werden. Wie lange es dauert, sich das Stück anzuhören, ist vermerkt.

Sigrids Grajeks Paraderolle ist die der „Claire Waldoff“, berühmt für Gassenhauer wie: „Wer schmeisst denn da mit Lehm?“ Sigrid Grajek tritt auf Kleinkunstbühnen mit der musikalischen Biographie der lesbischen Kaberettkünstlerin auf. Die 1920er und 30er Jahre sind ihr sehr vertraut.

Die Unbeugsame

Portrait Eva Siewert

1941

Hinter vorgehaltener Hand machen sich überall im „Dritten Reich“ ganz normale Leute über die Nazi-Herrschaft lustig, 1941 ebenso wie schon in den Dreißigern. Schließlich kann Herumwitzeln wie ein Ventil wirken, es ist gut zum „Luft“ ablassen. Ausgerechnet solche „Flüsterwitze“ werden Eva Siewert zum Verhängnis.

In ihrem Bekanntenkreis hat sie welche aufgeschnappt. Was fatal ist: In Briefen an ihre Bielefelder Freundin Kläre Beier (1882–1963) erzählt sie nicht nur von diesen „antifaschistischen“ Witzen. Sie schreibt sie auch noch Wort für Wort auf.

Portrait Eva Siewert

1941

Hinter vorgehaltener Hand machen sich überall im „Dritten Reich“ ganz normale Leute über die Nazi-Herrschaft lustig, 1941 ebenso wie schon in den Dreißigern. Schließlich kann Herumwitzeln wie ein Ventil wirken, es ist gut zum „Luft“ ablassen. Ausgerechnet solche „Flüsterwitze“ werden Eva Siewert zum Verhängnis.

In ihrem Bekanntenkreis hat sie welche aufgeschnappt. Was fatal ist: In Briefen an ihre Bielefelder Freundin Kläre Beier (1882–1963) erzählt sie nicht nur von diesen „antifaschistischen“ Witzen. Sie schreibt sie auch noch Wort für Wort auf.

In Bielefeld, wie anderenorts, schlägt das NS-Regime unerbittlich zu. Kläre Beier wird wegen ihrer antifaschistischen Einstellung denunziert, es gibt eine Hausdurchsuchung in ihrer Wohnung. Dabei werden die belastenden Briefe gefunden. Im Mai 1941 kommt Eva Siewert in „Schutzhaft“. Wegen der Flüsterwitze wird ihr der Prozess gemacht. Das passiert so manchen in dieser Zeit, dass sie sich wegen „Vergehen gegen das Heimtückegesetz“ vor einem Strafgericht verantworten müssen.

Eva Siewerts Tatvorwurf:

Böswillig gehässige, hetzerische und von niederer Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates und der NSDAP, über ihre Anordnungen und die von ihnen geschaffenen Einrichtungen […], die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben.

Das Urteil: zwei Monate Gefängnis, ersatzweise Geldstrafe.

1942: Die Katastrophe nimmt ihren Lauf

Im Spätsommer 1942 muss sich Eva Siewert erneut vor einem Strafgericht verantworten. Wieder ist der Anlass das Erzählen von Witzen.

Zwei Arbeitskolleginnen im Deutschen Rechtsverlag, wo sie seit 1941 arbeitet, haben sie denunziert. Sie betreibe mit ihren Witzen „Wehrkraftzersetzung“. Eva Siewert wird umgehend entlassen und steht erneut wegen „Vergehens gegen das Heimtückegesetz“ vor Gericht.

Aus der Urteilsbegründung vom 4. September 1942:

Das äußere Erscheinungsbild der Angeklagten ist überwiegend jüdisch.

Hier wird auch festgehalten, zu einer der beiden sie belastenden Arbeitskolleginnen habe Eva Siewert eine Beziehung mit „einen erotischen Einschlag“ unterhalten. Seit Sommer 1941 sei aber eine gewisse Entfremdung in dem Verhältnis eingetreten.

Die Andeutungen über eine gleichgeschlechtliche Beziehung werden Eva Siewert allem Anschein nach nicht zum Nachteil ausgelegt, vielmehr wird die Zeugin als nicht sehr glaubhaft eingestuft. Das Gericht gibt sich überzeugt, die Frau habe wiederholt unzutreffende Aussagen gemacht. Doch für eine Entlastung von den Vorwürfen reichen die Modifizierungen nicht. Eva Siewert wird zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten verurteilt.

Am 12. August 1942, knapp drei Wochen vor dem Urteilsspruch, werden die Eltern von Alice Carlé in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Margarete Carlé ist 65, Nathan Moritz Carlé 70 Jahre alt. Sie kommen schon wenig später ums Leben. Ihre beiden Töchter haben dies möglicherweise nie erfahren.

Die Lebenssituation Alice Carlés und ihrer Schwester Charlotte verschärft sich dramatisch.

Die Eltern sind weg und Eva Siewert muss ins Gefängnis. Sie kann der Freundin jetzt nicht mehr helfen. Die Schwestern müssen untertauchen.

Die Strafgefangene

Zur Arbeit verpflichtet

Im Frauengefängnis sind die Regeln streng. Alle Häftlinge müssen arbeiten. Ohne Ausnahme.

Eva Siewert hat Asthma. Bei einer amtsärztlichen Untersuchung wird ihre angegriffene Gesundheit festgestellt, von Arbeitskommandos außerhalb Berlins wird sie befreit. Stattdessen wird sie zu „leichteren“ Arbeiten eingeteilt, wie zur Kabelprüfung bei AEG.

Auch für das sogenannte Aschinger-Kommando wird sie abgestellt: Beim Arbeitseinsatz in der Brotfabrik Aschinger an der Ecke Prenzlauer Allee/Saarbrücker Straße müssen Häftlinge Gemüse putzen, Konserven herstellen und ähnliche Tätigkeiten verrichten.

Beim Arbeiten gleitet Eva Siewert mit Holzpantinen auf nassen Fliesen aus und zieht sich eine Gehirnerschütterung zu, die unbehandelt bleibt. Als sie nach neun Monaten das Gefängnis verlässt, ist sie ein gesundheitlich gebrochener Mensch. Sie ist 36 Jahre alt.

Besuche im Frauengefängnis sind nicht erlaubt. In ihrer autobiographischen Erzählung „Das Orakel“ beschreibt Eva Siewert eine List, wie „Alice“ trotz alledem den Kontakt zur Inhaftierten hält:

Zweimal wöchentlich sucht die Freundin eine Bäckerei auf, die dem Gefängnis gegenüber liegt. So können beide sich wenigstens mit den Augen grüßen: „Mehr durfte nicht geschehen. Schon ein Lächeln oder Nicken bedeutete schwerste Gefahr für sie und Kellerstrafe für mich.“

Möglich ist der Blickkontakt nur, weil jeden Abend gegen 18:00 Uhr ein Lastwagen vorfährt  und Strafgefangene von der Arbeit zurück ins Gefängnis bringt. Da eine dienstverpflichtete Aufseherin die Bewachung dieser Situation nicht sehr schätzt, darf statt ihrer die Ich-Erzählerin auf der Trittleiter des Wagens Stellung nehmen und den „Mädchen“ in ihren blauweißen Sträflingstrachten beim Absteigen helfen.

Für die Erzählerin und „Alice“ bedeutet dies unendlich viel: „Auf diese Weise sahen wir uns immer etwa sechs Minuten lang. Kostbare Minuten. Beide wussten voneinander, dass wir lebten.“

Während Eva Siewert im Gefängnis eingesperrt ist, bombardieren alliierte Streitkräfte die Reichshauptstadt. Strafgefangenen, wie auch Zwangsarbeiter_innen und jüdischen Menschen, wird der Zugang zu Luftschutzeinrichtungen verwehrt. Im November 1943 beginnt die „Große Luftschlacht um Berlin“. In der Nacht vom 22. auf den 23. November wird unter anderem die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Tauentzien schwer beschädigt, am Morgen liegen weite Teile der Stadt in Schutt und Asche. Wie verzweifelt Strafgefangene und Wärterinnen die Bombennacht im Frauengefängnis erleben, berichtet Eva Siewert in ihrem Buch „Barnimstraße 10“, von dem nur ein Auszug veröffentlicht wurde. Er erschien 1946 in der Zeitschrift „Die Weltbühne“.

Literarische Texte lassen beim Lesen und Hören Bilderwelten in der menschlichen Phantasie entstehen. Für jede eingelesene Erzählung Eva Siewerts hat die Malerin Minette Dreier Aquarellzeichnungen gefertigt. Feine Andeutungen, die der eigenen Vorstellung Platz lassen.

In „Das Orakel“ wollen die Frauen zunächst nicht glauben, was die Wahrsagerin aus den Karten liest: „Dann sehen Sie sich nie mehr wieder“. Im Verlauf der Erzählung aber wird das zur bitteren Realität, genauso wie im Leben von Eva Siewert und Alice Carlé.

 

Beim Lesen und Hören literarischer Texte entstehen Bilderwelten in der Phantasie. Für jede eingelesene Erzählung Eva Siewerts hat die Malerin Minette Dreier Aquarellzeichnungen gefertigt. Feine Andeutungen, die der eigenen Vorstellung Platz lassen.

In „Das Orakel“ wollen die Frauen zunächst nicht glauben, was die Wahrsagerin aus den Karten liest: „Dann sehen Sie sich nie mehr wieder“. Im Verlauf der Erzählung aber wird das zur bitteren Realität, genauso wie im Leben von Eva Siewert und Alice Carlé.

Untergetaucht

In „Das Orakel“ beschreibt Eva Siewert vergebliche Ausreiseversuche:

Damals wurde uns klar, daß Bleiben Lebensgefahr bedeutete. Bis zum 9. November 1938 war der Wunsch nach Auswanderung der Wunsch nach Freiheit gewesen. Jetzt wurde er zur Notwendigkeit. Es galt, sich zu retten. Wir haben kein Konsulat ausgelassen. Es gab keinen Staat der fünf Erdteile, dem wir unser Anliegen nicht vortrugen. Kein Antragsformular für Einreisevisa, das wir nicht gemeinsam ausfüllten … Aber nun war der Krieg da. Lange gefürchtet. Oft prophezeit. Wie sollten wir denn nun noch herauskommen?

Das Café Kranzler unter den Linden: Gegen Ende der 1930er Jahre tragen immer mehr Passanten Uniform. Das NS-Regime zeigt Flagge. Juden, die ohne Judenstern angetroffen werden, sind in Gefahr.

Spätestens nach der Reichspogromnacht im November 1938 wird die Lebenssituation für die noch in Deutschland verbliebenen Juden unerträglich. Die Lage verschärft sich insbesondere mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Im September 1941 notiert Joseph Goebbels, NS-Propagandaminister und Gauleiter von Berlin, in seinem Tagebuch, Berlin solle als eine der ersten Städte Deutschlands „judenfrei“ gemacht werden.

Ab 18. Oktober 1941 gilt ein generelles Ausreiseverbot für Juden.

Von einigen wenigen jüdischen Menschen ist bekannt, dass sie als sogenannte „U-Boote“ in Berlin überleben konnten. Sie entfernten den gelben Judenstern von ihrer Kleidung, schlüpften bei Freunden unter und hofften, auf der Straße nicht von Bekannten wiedererkannt und gemeldet zu werden. Die Versuche, so zu überleben, sind häufig misslungen.

  • In Gefahr

    Mit der Deportation der Eltern im August 1942 ist den Schwestern Carlé klar, die elterliche Wohnung ist viel zu gefährlich für sie. Sie können jederzeit abgeholt werden. Nur wo sollen sie hin? Eine Ausreise ist unmöglich, Eva Siewert kann wegen ihrer Strafsache nicht helfen.

  • Als „U-Boote“ in Berlin

    Anfang 1943 erhalten sie für kurze Zeit Unterkunft und Verpflegung bei einer flüchtigen Bekannten, Elsbeth Raatz, in Charlottenburg. Doch die drohende Denunziation durch einen Mitbewohner des Hauses verhindert den weiteren Aufenthalt.

  • Sie brauchen einen neuen Unterschlupf

    Zum Abschied schenkt Elsbeth Raatz den beiden ihren Reisepass. Für solche Hilfeleistungen wurde sie 1963 vom West-Berliner Senat als „Unbesungene Heldin“ geehrt. Ausgerechnet dieses Geschenk führt die Gestapo später auf die Spur der Schwestern.

  • In Gefahr

    Mit der Deportation der Eltern im August 1942 ist den Schwestern Carlé klar, die elterliche Wohnung ist viel zu gefährlich für sie. Sie können jederzeit abgeholt werden. Nur wo sollen sie hin? Eine Ausreise ist unmöglich, Eva Siewert kann wegen ihrer Strafsache nicht helfen.

  • Als „U-Boote“ in Berlin

    Anfang 1943 erhalten sie für kurze Zeit Unterkunft und Verpflegung bei einer flüchtigen Bekannten, Elsbeth Raatz, in Charlottenburg. Doch die drohende Denunziation durch einen Mitbewohner des Hauses verhindert den weiteren Aufenthalt.

  • Sie brauchen einen neuen Unterschlupf

    Zum Abschied schenkt Elsbeth Raatz den beiden ihren Reisepass. Für solche Hilfeleistungen wurde sie 1963 vom West-Berliner Senat als „Unbesungene Heldin“ geehrt. Ausgerechnet dieses Geschenk führt die Gestapo später auf die Spur der Schwestern.

Die Idee: Überleben in der Sommer-frische

In einer Pension im Berliner Außenbezirk Kladow, idyllisch am Wannsee gelegen, mieten die Schwestern ein Zimmer an und behaupteten, Ferien zu haben. Dass sie Jüdinnen sind, teilen sie ihren Vermietern nicht mit.

Charlotte Carlé hat inzwischen einen Reisepass, einen gefälschten: Der Jurist und Widerstandskämpfer Dr. Franz Kaufmann (1886–1944) hat ihr Passbild hineinmontieren lassen. Auch für Alice Carlé soll ein solcher Pass angefertigt werden.

Doch hierzu kommt es nicht mehr. Am 27. August 1943 greift die Gestapo die beiden Frauen auf und verhaftet sie. Nach einer Denunziation ist der illegale Helferkreis um Franz Kaufmann und Helene Jacobs aufgeflogen.

Die Adresse der Pension in Kladow hat sich in den Unterlagen des Fälscherkreises um Franz Kaufmann befunden, zusammen mit den Namen der Schwestern. Zwei Wochen nach der Festnahme geht der Transport ins KZ Ausschwitz.

Alice und Charlotte Carlé werden am 10. September 1943 mit dem 42. Transport nach Auschwitz deportiert. Der Transport umfasst 54 Personen. Einen Tag später erreicht er das Konzentrationslager. In den Unterlagen der heutigen Gedenkstätte in Oświęcim sind für den 11. September 1943 neun Frauen aus dieser Gruppe als Neuzugänge zum Lager registriert, die anderen werden sofort nach ihrer Ankunft vergast. Nur ein Name der neun registrierten Frauen ist bekannt. Deshalb ist unklar, ob Alice und Charlotte Carlé zu der Gruppe derjenigen gehörten, die sofort ermordet wurden, oder ob sie den brutalen Lageralltag noch für eine gewisse Zeit erleben mussten.

Umweht von den Schatten der teuren Toten

Vier Stolpersteine für die Familie Carlé: für die Eltern Nathan Moritz und Margarete sowie ihre Töchter Charlotte und Alice, verlegt am 22. März 2017 an ihrem letzten – mehr oder weniger frei gewählten – Wohnort in der Beuthstraße 10 in Berlin-Mitte.

Die Stolpersteinverlegung ging auf eine Initiative der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft zurück, und für die Steine wurden schnell Paten und damit Sponsoren gefunden: eine Patenschaft wurde von den Regenbogenfamilien Grüsser-Polte und Wagner-Andrae übernommen, die sich im Vorfeld der Verlegung zufällig gemeldet hatten, auf der Suche nach einem geeigneten Stein, den sie finanzieren wollten … die anderen Steinpatenschaften übernahmen Claudia Schoppmann, das Lesbenarchiv Spinnboden und das Schwule Museum. Organisiert wurde die feierliche Verlegung in Zusammenarbeit mit der Stolpersteininitiative Mitte.

Im Vorfeld der Stolpersteinverlegung sind sich Raimund Wolfert und Sigrid Grajek zum ersten Mal begegnet. Die Schauspielerin trug bei der Feier den Text „Das Orakel“ von Eva Siewert vor, der Historiker berichtete in seiner Ansprache vom Schicksal der Carlés und von Eva Siewert, die ihn erst auf die Spur der Berliner Familie gebracht hatte.

Die Überlebende

Wo ist Alice?

Am 1. Dezember 1943 wird Eva Siewert aus dem Gefängnis entlassen. In „Das Orakel“ beschreibt sie ihre nächsten Schritte: So schnell es geht, will die Erzählerin zum Wohnhaus von „Alice“ gelangen, in der Hoffnung dort ein Lebenszeichen vorzufinden. Seit Wochen hat sie nichts von der geliebten Freundin gehört.

Kontaktabbruch

Mit den heimlichen Begegnungen bei den Rückführungen vom Arbeitskommando war plötzlich Schluss gewesen. Der Arbeitseinsatz der Strafgefangenen wurde in einen Raum im Gefängnis verlegt, Transporte zu Arbeitsplätzen außerhalb der Gefängnismauern waren damit überflüssig.

Der vorletzte Brief

„Alice“ kam noch zwei, drei Mal zur üblichen Zeit zur Bäckerei, vergebens. Dann schickte sie Briefe, einmal die Woche. Sie machte Andeutungen, dass sie mit ihrer Schwester „in einem Versteck in der weiteren Umgebung als Sommerfrischler lebe“. Ein weiterer Brief und dann plötzlich keiner mehr. Nie mehr.

Hoffnung

In ihrer Gefängniszelle hat Eva Siewert die Bomben, die auf Berlin abgeworfen worden sind, nur gehört. Wieder in Freiheit sieht sie das Ausmaß der Zerstörung: Ganze Stadtteile liegen in Schutt und Asche. Die Erzählerin eilt zu Fuß zum Wohnhaus der Freundin und hofft, dass die Portiersfrau weiß, wo „Alice“ abgeblieben ist.

Alles in Trümmern

Doch da, wo das Wohnhaus gestanden hat, sieht sie nur noch Ruinen. „Der ganze Block war erledigt“. Die Erzählerin steht vor einem Trümmerberg – und vor dem Nichts. Genauso wie Eva Siewert. Doch da ist noch ein Fünkchen Hoffnung – die Sommerfrische! Wo mag das sein? Wo sind die Schwestern?

Nachforschung

In „Das Orakel“ eilt die Erzählerin weiter, zu arischen Freunden, „die wie Menschen leben“, und mit „Alice“ die ganze Zeit im Kontakt waren. Sie haben bereits in Kladow nachgeforscht und erfahren, dass die Schwestern abgeholt worden sind. „Einer, der immer alles wußte, sagte es mir: Auschwitz.“

 

Wo ist Alice?

Am 1. Dezember 1943 wird Eva Siewert aus dem Gefängnis entlassen. In „Das Orakel“ beschreibt sie ihre nächsten Schritte: So schnell es geht, will die Erzählerin zum Wohnhaus von „Alice“ gelangen, in der Hoffnung ein Lebenszeichen vorzufinden. Seit Wochen hat sie nichts von der geliebten Freundin gehört.

Kein Kontakt

Mit den heimlichen Begegnungen bei den Rückführungen vom Arbeitskommando war plötzlich Schluss gewesen. Der Arbeitseinsatz der Strafgefangenen wurde in einen Raum im Gefängnis verlegt, Transporte zu Arbeitsplätzen außerhalb der Gefängnismauern waren damit überflüssig.

Letzter Brief

„Alice“ kam noch zwei, drei Mal zur üblichen Zeit zur Bäckerei, vergebens. Dann schickte sie Briefe, einmal die Woche. Sie machte Andeutungen, dass sie mit ihrer Schwester „in einem Versteck in der weiteren Umgebung als Sommerfrischler lebe“. Ein weiterer Brief und dann plötzlich keiner mehr. Nie mehr.

Hoffnung

In ihrer Gefängniszelle hat Eva Siewert die Bomben, die auf Berlin abgeworfen worden sind, nur gehört. Wieder in Freiheit sieht sie das Ausmaß der Zerstörung: Ganze Stadtteile liegen in Schutt und Asche. Die Erzählerin eilt zu Fuß zum Wohnhaus der Freundin und hofft, dass die Portiersfrau weiß, wo „Alice“ abgeblieben ist.

Trümmer

Doch da, wo das Wohnhaus gestanden hat, sieht sie nur noch Ruinen. „Der ganze Block war erledigt“. Die Erzählerin steht vor einem Trümmerberg – und vor dem Nichts. Genauso wie Eva Siewert. Doch da ist noch ein Fünkchen Hoffnung – die Sommerfrische! Wo mag das sein? Wo sind die Schwestern?

Deportiert

In „Das Orakel“ eilt die Erzählerin weiter, zu arischen Freunden, „die wie Menschen leben“, und mit „Alice“ die ganze Zeit im Kontakt waren. Sie haben bereits bei der Pension in Kladow nachgeforscht und erfahren, dass die Schwestern abgeholt worden sind. „Einer, der immer alles wußte, sagte es mir: Auschwitz.“

Sie nimmt einen Atlas zur Hand. Dort unten also liegt Auschwitz. Sie würde so gern glauben, was einer sagt: „Die müssen bloß beim Bauern arbeiten.“ Ein anderer weiß es besser: „Die sind längst tot“.

  • Ein helles Fenster

    Ein Mensch streift abends durch unbelegte Wohnviertel, die in Trümmern liegen. Er entdeckt ein Haus, das von den Bomben verschont geblieben ist. Hinter vielen Fenstern ist Licht. Neugier und Einsamkeit treiben ihn, das Haus zu betreten …

Das helle Fenster

Ein Mensch streift abends durch unbelebte Wohnviertel, die in Trümmern liegen. Er entdeckt ein Haus, das von den Bomben verschont geblieben ist. Hinter vielen Fenstern ist Licht. Neugier und Einsamkeit treiben ihn, das Haus zu betreten …

Ich träumte oft, dass Alice an meine Tür klopfte und mich bat, sie zu verstecken, wie wir es verabredet hatten. Immer war sie auf der Flucht.

Aus Auschwitz kam keiner zurück

… schreibt Eva Siewert 1947 an Kurt Hiller. Ein kurzer Satz, der in seiner Endgültigkeit die vergebliche Hoffnung auf Seiten der Überlebenden beschreibt: Die monatelange, meist Jahre dauernde Ungewissheit, kommt der geliebte Mensch jemals wieder?

In der Nachkriegszeit versucht Eva Siewert mehrfach, Näheres über das Schicksal von Alice und Charlotte Carlé in Erfahrung zu bringen. Belegt ist ein Antrag, den sie 1957 gegenüber dem Haupttreuhänder für Rückerstattungsvermögen stellte. Er brachte ihr aber nur die Auskunft, die Schwestern Carlé seien im September 1943 nach „Ziel unbekannt“ deportiert worden. Lapidar heißt es in dem Behördenschreiben:

Der weitere Verbleib der Genannten ist leider nicht festzustellen.

Ich träumte oft, dass Alice an meine Tür klopfte und mich bat, sie zu verstecken, wie wir es verabredet hatten. Immer war sie auf der Flucht.

Aus Auschwitz kam keiner zurück

… schreibt Eva Siewert 1947 an Kurt Hiller. Ein kurzer Satz, der in seiner Endgültigkeit die vergebliche Hoffnung auf Seiten der Überlebenden beschreibt: Die monatelange, meist Jahre dauernde Ungewissheit, kommt der geliebte Mensch jemals wieder?

In der Nachkriegszeit versucht Eva Siewert mehrfach, Näheres über das Schicksal von Alice und Charlotte Carlé in Erfahrung zu bringen. Belegt ist ein Antrag, den sie 1957 gegenüber dem Haupttreuhänder für Rückerstattungsvermögen stellt. Er bringt ihr aber nur die Auskunft, die Schwestern Carlé seien im September 1943 nach „Ziel unbekannt“ deportiert worden. Lapidar heißt es in dem Behördenschreiben:

Der weitere Verbleib der Genannten ist leider nicht festzustellen.

Als im Mai 1945 der Krieg und damit die NS-Herrschaft endet, wird beschämende Gewissheit, was den in die Konzentrationslager deportierten Menschen angetan worden ist: Sie wurden entmenschlicht. Ermordet. Vernichtet.

Das Entsetzen bei den hinterbliebenen Angehörigen wie Eva Siewert ist groß. Viele aber verdrängen den Schmerz des unwiederbringlichen Verlustes: Das große Schweigen nach dem Holocaust.

Die Mädchen
hatten kein Grab.

Eva Siewert schreibt sich Schmerz und Trauer von der Seele, indem sie Erzählungen wie „Das Orakel“, „Ein helles Fenster“ oder „Das Boot Pan“ verfasst. Sie findet dabei Worte für das Unsagbare, für die Gefühle der Hinterbliebenen, für das unermessliche Leid.

  • Das Boot Pan

    In einem Bootshaus liegt seit Jahren ein unbenutztes Ruderboot. Es gibt keine Hoffnung mehr, dass von den „Mädchen“, die es sich einst gekauft hatten, „je wieder ein Lebenszeichen kommt“. Der Ich-Erzähler fasst sich ein Herz und sucht den Vermieter auf …

Das Boot Pan

In einem Bootshaus liegt seit Jahren ein unbenutztes Ruderboot. Es gibt keine Hoffnung mehr, dass von den „Mädchen“, die es sich einst gekauft hatten, „je wieder ein Lebenszeichen kommt“. Der Ich-Erzähler fasst sich ein Herz und sucht den Vermieter auf …

Neuanfang nach 1945

Radio

Im Haus des Rundfunks, von Kriegsschäden verschont, entsteht unter der Lizenz der Russischen Besatzungsmacht kurz nach Kriegsende der Berliner Rundfunk. Eva Siewert wohnt in der Nähe und versucht, beruflich an alte Erfolge anzuknüpfen. Sie dolmetscht und übersetzt, aber wie es scheint, tritt sie nicht wieder vor das Mikrofon. In späteren Jahren erstellt sie als freie Autorin Rundfunkbeiträge. So gibt es eine Radiofassung ihrer Erzählung „Wächter an der Strecke“, die der Berliner Sender RIAS zum Tag der Brüderlichkeit am 19. März 1957 wiederholt.

Journalismus

Eva Siewert gelingt es nicht mehr, ihre erfolgsverwöhnte Laufbahn fortzusetzen. Sie schreibt für die Weltbühne, den Sozialdemokrat, den Spiegel, den Telegraf und Die Andere Zeitung. Bis heute hat sich aber nur ein geringer Teil ihrer Veröffentlichungen ermitteln lassen. Eine umfassende Bibliographie ist nach wie vor Stückwerk. Offenbar gingen Eva Siewerts Essays, Feuilletons, Kritiken und Polemiken im Tagesgeschäft unter. In der Geschichte des deutschsprachigen Journalismus hat die Autorin nur verstreute Spuren hinterlassen.

Bücher

Eva Siewerts größere Schriften werden nie gedruckt. Sie legt ihr Buch über den Aufenthalt im Frauengefängnis in der Barnimstraße 10 dem Verlag von Victor Gollancz (1893–1967) vor, aber er zeigt sich desinteressiert, so auch die britische Lektorin Gladys K. Palmer. 1947 geht Siewert noch davon aus, das Buch könne bei „Volk und Welt“ in Karlsruhe herauskommen, doch diese Pläne zerschlagen sich, als der Verlag zwei Jahre später in Konkurs geht. Auch ihre Monographie zur „Gynäkophilie der Frau“ ist nie erschienen, das Manuskript bleibt verschollen.

Rente

Vom Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“ wird Eva Siewert als politisch Verfolgte anerkannt. Während der Haftzeit hat ihre  Gesundheit dauerhaft Schaden genommen, sie erhält deshalb einen sogenannten Schwerbeschädigten-Ausweis und zur Wiedergutmachung für die erlittene Haftzeit eine kleine Rente. Sie sichert ihr einen gewissen finanziellen Grundstock, aber ihre Lebensverhältnisse bleiben mit den Einnahmen als freie Journalistin und Autorin bescheiden. Sie lebt weiterhin unverheiratet, vermutlich auch immer alleine wohnend.

Radio

Im Haus des Rundfunks in der Masurenallee, von Kriegsschäden verschont, entsteht unter der Lizenz der Russischen Besatzungsmacht kurz nach Kriegsende der Berliner Rundfunk. Eva Siewert wohnt in der Nähe und versucht, beruflich an alte Erfolge anzuknüpfen. Sie dolmetscht und übersetzt, aber wie es scheint, tritt sie nicht wieder vor das Mikrofon. In späteren Jahren erstellt sie als freie Autorin Rundfunkbeiträge. So gibt es eine Radiofassung ihrer Erzählung „Wächter an der Strecke“, die der Berliner Sender RIAS zum Tag der Brüderlichkeit am 19. März 1957 wiederholt.

Journalismus

Eva Siewert gelingt es nicht mehr, ihre erfolgsverwöhnte Laufbahn fortzusetzen. Sie schreibt als freie Autorin für die Weltbühne, den Sozialdemokrat, den Spiegel, den Telegraf und Die Andere Zeitung. Bis heute hat sich aber nur ein geringer Teil ihrer Veröffentlichungen ermitteln lassen. Eine umfassende Bibliographie ist nach wie vor Stückwerk. Offenbar gingen Eva Siewerts Essays, Feuilletons, Kritiken und Polemiken im Tagesgeschäft unter. In der Geschichte des deutschsprachigen Journalismus hat die Autorin nur verstreute Spuren hinterlassen.

Bücher

Eva Siewerts größere Schriften werden nie gedruckt. Sie legt ihr Buch über den Aufenthalt im Frauengefängnis in der Barnimstraße 10 dem Verlag von Victor Gollancz (1893–1967) vor, aber er zeigt sich desinteressiert, so auch die britische Lektorin Gladys K. Palmer. 1947 geht Siewert noch davon aus, das Buch könne bei „Volk und Welt“ in Karlsruhe herauskommen, doch diese Pläne zerschlagen sich, als der Verlag zwei Jahre später in Konkurs geht. Auch ihre Monographie zur „Gynäkophilie der Frau“ ist nie erschienen, das Manuskript bleibt verschollen.

Rente

Vom Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“ wird Eva Siewert als politisch Verfolgte anerkannt. Während der Haft im Frauengefängnis hat ihre Gesundheit dauerhaft Schaden genommen, sie erhält deshalb einen sogenannten Schwerbeschädigten-Ausweis und zur Wiedergutmachung für die erlittene Haftzeit eine kleine Rente. Sie sichert ihr einen gewissen finanziellen Grundstock, aber ihre Lebensverhältnisse bleiben mit den Einnahmen als freie Journalistin und Autorin bescheiden. Sie lebt weiterhin unverheiratet, vermutlich auch immer alleine wohnend.

Die Autorin

Bei der Spurensuche nach Eva Siewert hat Raimund Wolfert einen ihrer Texte in einer Ausgabe der Weltbühne entdeckt. Es ist der Auszug aus ihrem Sachbericht „Barnimstraße 10“. Die Suche nach weiteren literarischen Werken führt in zahlreiche Bibliotheken und Archive. Im Laufe der Recherche ist, wenn auch immer noch lückenhaft, eine beachtliche bibliographische Liste mit Arbeiten Eva Siewerts entstanden.

Titelblatt Die Weltbühne mit Inhaltangabe Eva Siewert

Eva Siewert hat vornehmlich Essays und „Stories“ geschrieben, unter ihren Werken finden sich aber auch einige wenige Gedichte.

„Apokalyptisches Reiterlied“, ein ergreifendes Gedicht, das in wenigen Zeilen die Schrecken des Krieges beschwört, ist bereits auf dem Titelblatt der Zeitschrift Die Weltbühne vom 15. November 1946 aufgeführt.

Nachkriegsliteratur

In den Jahren nach 1945 entsteht eine neue literarische Strömung, die von den Erlebnissen und Eindrücken von Kriegsheimkehrern einerseits und Exilautorinnen und -autoren anderseits geprägt ist. Die Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind häufig verärgert über mächtige konservative Kräfte, die die dunklen Jahre des „Dritten Reichs“ unter den Teppich kehren wollen.

Noch fehlt es daran, Eva Siewert, die vergessene Autorin, hinzuzurechnen. Ihre Werke schöpfen aus dem selbst Erlebten, so auch die Erzählung „Wächter an der Strecke“. An Kurt Hiller schreibt Eva Siewert 1956 dazu: Die „story nicht sehr deutscher Art“ sei die „freie Verarbeitung eines in meiner zweiten Gefängniszelle vorhandenen Falles einer mit dem braunen Streifen* gekennzeichneten Todeskandidatin, die auch hingerichtet wurde.“

* Mit einem „braunen Streifen“ an der Kleidung waren zum Tode verurteilte Frauen markiert. Claudia von Gélieu berichtet in ihrem 2014 erschienenen Buch „Barnimstraße 10“ von mehr als 300 Frauen, die als Insassinnen des Frauengefängnisses im Strafgefängnis Plötzensee hingerichtet wurden und die heute namentlich bekannt sind.

  • Wächter an der Strecke

    Erst in der Gefängniszelle erfährt der Streckenwächter, warum er aus vorbeirollenden Viehwaggons menschliche Laute wahrgenommen hat. Sein Verbrechen, für das ihm die Todesstrafe droht: Bei einem Kontrollgang entlang der Gleise hat er einen Sterbenden gefunden und ihm den letzten Dienst erwiesen …

Wächter an der Strecke

Aquarellzeichnung: Ein Mann liegt leblos neben Eisenbahnschienen

Erst in der Gefängniszelle erfährt der Streckenwächter, warum er aus vorbeirollenden Viehwaggons menschliche Laute wahrgenommen hat. Sein Verbrechen, für das ihm die Todesstrafe droht: Bei einem Kontrollgang entlang der Gleise hat er einen Sterbenden gefunden und ihm den letzten Dienst erwiesen …

Unter Männern

Im Wissenschaftlich-humanitären-Komitee

Um 1950 ist Eva Siewert Mitte 40. Sie sucht Anschluss an Gleichgesinnte und findet sie im neu gegründeten Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK), als einzige Frau unter schwulen Männern – wobei diese das Wort „schwul“ genau so wenig benutzen wie Eva Siewert das Wort „lesbisch“. Selbst der Ausdruck „homosexuell“ ist ihnen zu anstößig. Viele von ihnen nennen sich „homophil“.

... betätigt sich Eva Siewert nur kurze Zeit

Eva Siewerts Engagement für die homosexuelle Emanzipation in West-Berlin ist allem Anschein nach nur vorübergehend. Sie überwirft sich schnell mit den Männern im WhK. Möglicherweise waren aber auch die gesundheitlichen Beschwerden, unter denen Eva Siewert seit Anfang der 1940er Jahre litt, ein Auslöser für ihre relative Inaktivität. 1949 hat sie einen Herzinfarkt. Mehr zu Eva Siewert und dem WhK der Nachkriegszeit … →

Im Wissenschaftlich-humanitären Komittee

Um 1950 ist Eva Siewert Mitte 40. Sie sucht Anschluss an Gleichgesinnte und findet sie im neu gegründeten Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK), als einzige Frau unter schwulen Männern – wobei diese das Wort „schwul“ genau so wenig benutzen wie Eva Siewert das Wort „lesbisch“. Selbst der Ausdruck „homosexuell“ ist ihnen zu anstößig. Viele von ihnen nennen sich „homophil“.

… betätigt sich Eva Siewert nur kurze Zeit

Eva Siewerts Engagement für die homosexuelle Emanzipation in West-Berlin ist allem Anschein nach nur vorübergehend. Sie überwirft sich schnell mit den Männern im WhK. Möglicherweise waren aber auch die gesundheitlichen Beschwerden, unter denen Eva Siewert seit Anfang der 1940er Jahre litt, ein Auslöser für ihre relative Inaktivität. 1949 hat sie einen Herzinfarkt. Mehr zu Eva Siewert und dem WhK der Nachkriegszeit … →

Freundschaften

Vorrangig sind es Kolleginnen und Kollegen aus Presse und Rundfunk, mit denen Eva Siewert Freundschaften pflegt. Unter ihnen sind die Redakteurinnen Dora Fehling (geb. 1909) und Dorothee Dovifat (1920–2016). Insbesondere die Beziehung zu Dora Fehling dürfte nicht nur kollegialen Charakter gehabt haben. Fehling, die in der Nachkriegszeit für den Telegraf arbeitet, galt zwischen 1935 und 1945 ebenfalls wie Eva Siewert als „Halbjüdin“.

In England steht Eva Siewert in Kontakt mit einem Kunstverleger, Harry Batsford, und in Frankreich mit einem Mann namens Eugen Jacobson. Aus Luxemburger Zeiten pflegt sie eine Freundschaft mit einem Dirigenten, der im Frühjahr 1948 in Berlin ein Sinfoniekonzert mit modernen französischen und belgischen Kompositionen gibt – doch nicht einmal sein Name ist heute überliefert.

1957 teilt Eva Siewert Kurt Hiller einmal mit, dass sie seit ihrer Kinderzeit mit der Familie George Grosz eng befreundet sei. George Grosz (1893–1959), der noch heute als einer der bedeutendsten politisch-satirischen Künstler der Weimarer Republik gilt, wohnt mit seiner Familie bis 1933 in Berlin. Ein Lehrauftrag in New York verschafft ihm die Möglichkeit, mit seiner Frau und den Söhnen in die USA zu emigrieren.

In einem Brief an den Komponisten Heinz Tiessen (1887–1971) bekennt Eva Siewert 1948, Tiessen gehöre zu den wenigen Beziehungen ihrer Jugendzeit, die sie nicht ganz verkümmern lassen wolle.

1956 erwähnt Eva Siewert in einem Brief an Kurt Hiller den Schriftsteller und einstigen Widerstandskämpfer Günther Weisenborn (1902–1969) und bezeichnet ihn als Freund. Man mache es ihm „recht schwer“. Weisenborn unterstützte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs die Widerstandsgruppe Rote Kapelle und wurde 1943 wegen „Hochverrats“ zum Tode verurteilt, doch wurde das Urteil nicht vollstreckt.

Im Kreis des Freiheitsbundes Deutscher Sozialisten (FDS), den Kurt Hiller in seinem Londoner Exil gegründet hat und für den er Eva Siewert als Mitglied warb, versteht sie sich am besten mit den Journalisten Rainer Höynck (1927–2018) und Bernt Conrad (geb. 1928).

Mit ihrem Stiefvater Philipp Albert von Hesse (1880–1966) pflegt Eva Siewert einen langjährigen Umgang, der über den Tod der Mutter hinausgeht. Die Ehe mit dem „deutschblütigen“ Major a.D. gab Frida Siewert-Michels einen gewissen Schutz vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten.

Kontakt hat Eva Siewert nach 1945 ebenfalls mit Hans Carlé (1899–1950), dem Bruder von Alice Carlé. Er hatte Deutschland schon Ende 1933 verlassen und wanderte drei Jahre später nach Palästina aus. Hans Carlé war in seiner Familie der einzige, der die Shoah überlebte.

Vorrangig sind es Kolleginnen und Kollegen aus Presse und Rundfunk, mit denen Eva Siewert Freundschaften pflegt. Unter ihnen sind die Redakteurinnen Dora Fehling (geb. 1909) und Dorothee Dovifat (1920–2016). Insbesondere die Beziehung zu Dora Fehling dürfte nicht nur kollegialen Charakter gehabt haben. Fehling, die in der Nachkriegszeit für den Telegraf arbeitet, galt zwischen 1935 und 1945 ebenfalls wie Eva Siewert als „Halbjüdin“.

In England steht Eva Siewert in Kontakt mit einem Kunstverleger, Harry Batsford, und in Frankreich mit einem Mann namens Eugen Jacobson. Aus Brüsseler Zeiten pflegt sie eine Freundschaft mit einem Dirigenten, der im Frühjahr 1948 in Berlin ein Sinfoniekonzert mit modernen französischen und belgischen Kompositionen gibt – doch nicht einmal sein Name ist heute überliefert.

1957 teilt Eva Siewert Kurt Hiller einmal mit, dass sie seit ihrer Kinderzeit mit der Familie George Grosz eng befreundet sei. George Grosz (1893–1959), der noch heute als einer der bedeutendsten politisch-satirischen Künstler der Weimarer Republik gilt, wohnt mit seiner Familie bis 1933 in Berlin. Ein Lehrauftrag in New York verschafft ihm die Möglichkeit, mit seiner Frau und den Söhnen in die USA zu emigrieren.

In einem Brief an den Komponisten Heinz Tiessen (1887–1971) bekennt Eva Siewert 1948, Tiessen gehöre zu den wenigen Beziehungen ihrer Jugendzeit, die sie nicht ganz verkümmern lassen wolle.

1956 erwähnt Eva Siewert in einem Brief an Kurt Hiller den Schriftsteller und einstigen Widerstandskämpfer Günther Weisenborn (1902–1969) und bezeichnet ihn als Freund. Man mache es ihm „recht schwer“. Weisenborn unterstützte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs die Widerstandsgruppe Rote Kapelle und wurde 1943 wegen „Hochverrats“ zum Tode verurteilt, doch wurde das Urteil nicht vollstreckt.

Im Kreis des Freiheitsbundes Deutscher Sozialisten (FDS), den Kurt Hiller in seinem Londoner Exil gegründet hat und für den er Eva Siewert als Mitglied warb, versteht sie sich am besten mit den Journalisten Rainer Höynck (1927–2018) und Bernt Conrad (geb. 1928).

Mit ihrem Stiefvater Philipp Albert von Hesse (1880–1966) pflegt Eva Siewert einen langjährigen Umgang, der über den Tod der Mutter hinausgeht. Die Ehe mit dem „deutschblütigen“ Major a.D. gab Frida Siewert-Michels einen gewissen Schutz vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten.

Kontakt hat Eva Siewert nach 1945 ebenfalls mit Hans Carlé (1899–1950), dem Bruder von Alice Carlé. Er hatte Deutschland schon Ende 1933 verlassen und wanderte drei Jahre später nach Palästina aus. Hans Carlé war in seiner Familie der einzige, der die Shoah überlebte.

In späten Jahren

Vermutlich lebt Eva Siewert in ihren späten Jahren zurückgezogen und in bescheidenen Verhältnissen.

Aus den erhaltenen Briefen und Texten ist nicht ersichtlich, ob sie weitere Liebesbeziehungen lebt oder ob sie Kontakt zu lesbischen Frauen ihrer Generation sucht, die sich beispielsweise wie Hilde Radusch (1903–1994) oder Kitty Kruse (1904–1999) in der Gruppe L74 engagieren. Kitty Kruse hat diesen Zusammenschluss älterer lesbischer Frauen 1974 in West-Berlin gegründet und 15 Jahre lang die Lesbenzeitschrift „Unsere kleine Zeitung“ (ukz) herausgeben.

Mehrmals träumt Eva Siewert von einem Leben im Ausland. So beabsichtigt sie 1958, nach Portugal auszuwandern – offenbar erfolglos. Als ihre geistige Heimat betrachtet sie Frankreich, doch kann sie sich eine Übersiedlung in das Nachbarland nicht leisten.

Ab 1977 wohnt sie in einer Neubau-Mietwohnung am Südwestkorso 33 in Berlin-Wilmersdorf. Hier wird sie am 3. Dezember 1994 tot aufgefunden. Drei Wochen nach ihrem Tod wird Eva Siewert auf dem Parkfriedhof in der Steglitzer Bergstraße beigesetzt. Die Grabstelle wird jedoch nach Ablauf der gesetzlichen Ruhezeit 2016 beräumt.

Wissen Sie mehr über Eva Siewert?

Besitzen Sie ein Foto von ihr oder von Alice Carlé? Ihren Angehörigen oder Freundinnen? Kennen Sie weitere Texte der in Vergessenheit geratenen Autorin? Wir freuen uns über jeden Hinweis und erweitern damit gern diese Website.

Dank dieser Aufforderung hat bereits eine aufmerksame Leserin einen Koffer mit Hinterlassenschaften von Eva Siewert für uns geöffnet. Was es damit auf sich hat, können Sie in den „Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V.“ (Nummer 68, März 2022) nachlesen. Per E-Mail hier erhältlich.